Privatheit 2.0

Eine der ersten Definitionen, die ich zu dem Begriff Web 2.0 hörte, lautete in etwa so: Das ist, wenn andere sehen können, was ich gerade für Musik höre, wenn sie die dann auch hören können und überhaupt immer wissen, was ich gerade so mache. Das muß ungefähr 2006 gewesen sein, zu der Zeit befand ich mich bereits seit vier Jahren in diesem Netz, war bereits tief verstrickt und keinesfalls nur passive Nutzerin. Im Gegenteil, StudentInnencommunities und Foren hatte ich schnell hinter mich gebracht und führte bereits  mehrere Blogs und nahm auch an anderen aktiv teil. Nachdem ich 2004 nach Berlin gegangen bin, setzte sich mein neuer Freundeskreis zunächst vorwiegend aus anderen Bloggern zusammen, vorwiegend auch irgendwie literarisch angehauchten Bloggern. Nach ein paar Monaten bereits feierte ich meinen ersten Geburtstag in der neuen Stadt nicht allein, sondern mit etlichen, ganz neuen Menschen. Ich bin in so etwas sonst nicht so schnell, aber es ist überraschend. Blogger treffen kann ganz einfach sein. Man hat sich auf jeden Fall etwas zu erzählen, muß die Themengebiete nicht erst abstecken, und hat sich auf jeden Fall etwas zu sagen. Von da aus kann es dann ganz leicht sein.

Diese frühe Erklärung des Web 2.0 hat mich dennoch überrascht und irritiert. Beinah sogar ein wenig erschrocken, damals schon. Die Vorstellung, daß jeder X-bliebige mich dabei beobachten könnte, wie ich Musik höre, lese und schreibe, vielleicht sogar esse oder schlafe und dabei träume, war mir spontan zuwider. Ich möchte nicht, daß alle Welt wissen kann, welches Lied ich gerade siebzehn Mal am Tag hören will, muß oder mag. Bis heute nehme ich an solchen Angeboten kaum aktiv teil, obwohl ich hier und mal meine Nase hineingesteckt habe. Nur um immer wieder festzustellen, daß es für mich nicht funktioniert. Nein, ich möchte insbesondere nicht, daß die, die ich persönlich kenne, genau das wissen. Sie sollen nicht sehen, wann ich was auf meinem Rechner tue. Niemand soll meine Launen und Irrtümer beobachten, meine vielen hilflosen Versuche. Das geht einfach nicht, in mir ist da sofort das Gefühl von unmittelbarer Gefahr.

Das mag übertrieben erscheinen, zumal wenn es theatralisch gleich auf die ganze Welt bezogen ist. Diese Welt will mir nichts, ich weiß. Außerdem sind insbesondere die Netzwelten längst nicht so groß, wie sie manchmal erscheinen mögen, wenn man sich in ihnen bewegt. Die technische Umsetzbarkeit hingegen, so vermute ich, dürfte in den meisten Fällen längst gegeben sein. Hacker hacken alles, oder? Und es reicht ein Einzelner, der in meine Welt hineinkriecht, sich dort umsieht und die Dinge, die er findet kopiert und benutzt. Für seine Zwecke, was auch immer die sein mögen. So etwas vernichtet mit Leichtigkeit, das weiß ich aus der realen Welt.

Ich habe den Vorteil wie auch das Pech, mich erinnern zu können, jederzeit, an eine ganz persönliche Welt mit einem beständigen Zuviel an Enge und Wissen übereinander, lange vor den digitalen Möglichkeiten heute. Ich erinnere mich gut an die verzweifelte Qual, irgendwie bedeckt halten zu wollen, was mir gehört, damit es nicht benutzt wird. Nicht gegen mich eingesetzt. Und überhaupt, damit es mir nicht verloren geht. Damit ich selbst mir nicht verloren gehe. Etwas, an dem ich gescheitert bin, zwangsläufig, ich weiß nicht wie oft. Die Bücher, das ich las, die Filme, die ich sah und Musik, die ich hörte. Das alles hat mich verraten und wurde gegen mich eingesetzt, immer und immer wieder. Es hat mir die Träume und das Leben zerrieben, das war ein leichtes Spiel. Menschen zu demütigen und zu demontieren ist ganz einfach, wenn man in ihr Leben hineinsehen kann. Dann kann man auch in sie hineingreifen, kann sie innerlich verdrehen, verletzen, vernichten. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Auswirkungen ein systematisches, institutionalisiertes Vorgehen dieser Art haben mag. Das ist es, woran ich denken muß, wenn ich von dieser neuen Postprivatheit höre oder lese. Auch die heimliche Freude daran bleibt mir ein Rätsel. Oder ist es Hoffnung?

Hoffnung ist doch immer noch das grausamste aller Tiere.

Dennoch schreibe ich öffentlich in Netz, nicht nur hier, auch auf vielen anderen Seiten. Mein Kram ist jederzeit für alle zugänglich, und das ist gut so. Das ist Absicht. Ich bin ganz sicher keine Verfechterin der deutschen Streetviewverpixelung, das kommt mir eher dämlich vor. Und ich habe keine Angst vor Kontrollverlust. Weil  ich weiß, daß ich noch nie irgendeine Art von Kontrolle hatte. Kontrolle ist eine Illusion, das ist meine Erfahrung.

Natürlich tue ich trotzdem so als ob, anders werden natürliche Grenzen nicht eingehalten, bzw. gar nicht erst entwickelt. Gerade jetzt, wo im Netz Häme und Verachtung immer weiter zuzunehmen scheinen. Neben dem seit langem üblichen Getrolle und Gestalke sieht es inzwischen ziemlich danach aus, daß sich eine Mehrklassennetzgesellschaft ausbildet, in der die absoluten Auskenner und Durchdenker denen, die sich erstmal ein bißchen umschauen, noch üben oder einfach nur etwas anderes anstreben oder sind, das Recht zur Mitgestaltung grundlegend absprechen wollen.

Wobei ich doch immer noch schwer annehme, daß das ein falscher Eindruck ist. Vielleicht auch ein Mißverständnis. Oder einfach nur Illusion, wie alles im Netz.

3 Gedanken zu „Privatheit 2.0“

  1. Vielleicht ist das Schreiben im Netz einfach immer noch dieses kindliche Urvertrauen, es mögen die Richtigen (sich) finden. Zu 70% funktioniert es.
    Der Rest ist letztlich nur ein Entscheiden, wer die Macht haben soll, sich einem zu verbieten.

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  2. Wobei ein gewisses Maß an zurückhaltender Höflichkeit auch nicht ganz schlecht ist. Langsame, im Schneesturm zur Post gebrachten Leserbriefe hatten etwas.

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